Onkel Albert und die Religion – Religio Cosmica in der Praxis

Cosima Einstein / Peter von Wald


Wie ich die Religion sehe


Zwei Interviews

CC: Frau Einstein, Sie tragen einen besonderen Namen.

CE: Ja, das stimmt. Ich finde ihn super.

CC: Der Nachname Einstein spricht für sich. Wie hängen Sie verwandtschaftlich mit dem großen Albert Einstein zusammen?

CE: Sie wissen ja, Einstein hat in zweiter Ehe seine Cousine geheiratet, und diese hieß ja auch Einstein, wie praktisch! Über diese Verwandtschaft bin ich mit Albert Einstein verwandt, sehr weit verwandt, aber immerhin. Und irgendwie sind wir ja alle verwandt, nicht wahr?

CC: Ja, stimmt. Wie geht denn die weitere Verwandtschaft mit dem großen Albert Einstein um? Ist man es manchmal leid, dass man immer wieder darauf angesprochen wird?

CE: Nein. In erster Linie freut man sich doch darüber! Wir mögen es, dass wir einen so großen Namen tragen. Wir nennen unseren entfernten Verwandten immer „Onkel Albert“.

CC: Aber er war doch gar nicht Ihr Onkel!

CE: Weiß ich. Aber das machen wir unabhängig davon, ob man ihn noch persönlich kennen lernen konnte oder nicht, wie ich zum Beispiel. Für alle von uns ist er einfach „Onkel Albert“. Das ist zwar nicht ganz korrekt, aber gefühlt schon. Albert Einstein, oder Onkel Albert, hat der Welt ja so viel gegeben.

CC: Ja, darauf kommen wir noch… Nochmal zu Ihrem Namen: Cosima, ein seltener Vorname! Er lässt sofort an Cosima Wagner denken. Aber Cosima Wagner, die frühere Cosima von Bülow, war in zweiter Ehe mit Wagner verheiratet. Und Wagner war deutsch, sehr deutsch, und leider ja auch antisemitisch angehaucht. Ob Ihr „Onkel Albert“ Wagner liebte, ist nicht bekannt. Aber Sie wurden von Ihren Eltern Cosima genannt…

CE: Ja, kein Wunder. meine Eltern liebten Einsteins Idee der Cosmic Religion, wie es auf englisch heißt, oder, wie mein Vater oft sagte, ein Humanist vom alten Schlag, auf lateinisch: Religio Cosmica.

CC: Ah, jetzt dämmert es mir!

CE: Sehen Sie, Cosmica und Cosima klingt ganz ähnlich. So kamen meine Eltern auf den Namen Cosima. Sie waren Weltbürger, nicht nur was Religion und Politik anbelangt.

CC: Wie meinen Sie das?

CE: Ja, sie mochten Mozart, wie Onkel Albert, Bach und Händel und Haydn, auch Wagner, die Italiener Monteverdi und Vivaldi und Verdi sowieso, die britischen und amerikanischen Komponisten auch, – irgendeine Musik erklang immer bei uns.

CC: Das hätte Ihren „Onkel Albert“, den Geigenspieler, sicher gefreut. War das mit der Religion auch so?

CE: Ja, und wie! Ganz sicher! Es war ein weiter Horizont bei uns zu Hause.

CC: Inwiefern?

CE: Meine Eltern waren sehr kosmopolitisch, und unsere Freunde wussten das und schätzten das. Stundenlang wurde diskutiert über philosophische und gesellschaftliche Fragen, Fragen des Zusammenlebens, einer zeitgemäßen Ethik, und natürlich Fragen der Religion.

CC: Was heißt „der Religion“? Es gibt ja nicht eine, sondern viele.

CE: Das stimmt. Aber in unserer weiten Familie war Religion immer so eine Art Sammel-Begriff. Wir hatten immer Onkel Alberts Idee von Religion im Kopf, seine Kosmische Religion, seine „Cosmic Religion“.

CC: Schließt das nicht enge und strenge Religionen aus?

CE: Ach wissen Sie, das war in der Praxis ganz einfach.

CC: In der Praxis? Ganz einfach? Erzählen Sie!

CE: In der ganzen großen Verwandtschaft und bei unseren Freunden gab es immer eine große Bandbreite von religiösen Überzeugungen. Es gab viele, die jüdisch geprägt waren, aber auch viele christlich orientierte, sogar Buddhisten und Hinduisten, und natürlich dezidierte Freidenker, die man in keine Schublade stecken konnte. Aber alle respektierten Onkel Alberts Idee der Kosmischen Religion.

CC: War das so eine Art gemeinsames Band?

CE: Ja. Man kann ja mit Onkel Alberts Idee immer auch zusätzlich seine weltanschauliche Gemeinschaft lieben, kann Jude oder Christ oder Muslim oder Buddhist oder Jeside oder Shintoist oder sonst was sein.

CC: Das ist aber jetzt sehr erklärungsbedürftig…

CE: Gern. Es war bei uns so: Mit fundamentalistischen Juden oder Christen oder Muslimen hatten wir kaum zu tun. Das gilt auch für intolerante Kommunisten oder Nationalsozialisten oder sonstwelche –Isten. Militante Zeitgenossen kannten wir aus den Nachrichten, aus Büchern, nicht aus dem Alltag. Irgendwie hielten sich meine Eltern die vom Leibe. Wir hatten immer mit weltoffenen und toleranten Menschen zu tun. Aber die hatten natürlich auch ihre weltanschaulichen Vorlieben…

CC: Zum Beispiel?

CE: Na, genau wie man Vorlieben hat in puncto Essen, Mode, Lifestyle, hat man auch Vorlieben in puncto Religion. Aber was allen Verwandten und Freunden gemeinsam war: Hinhören, zuhören, kennenlernen wollen, gelten lassen.

CC: Haben Sie ein paar Beispiele? CE: Viele von uns haben nur noch eine ganz lockere Verbindung mit der offiziellen Religion. Man feiert Feste mit, Schabbat, Chanukka, Pessach, Schukot, Bar Mizwa, aber dann hat sich´s schon wieder. Manche essen koscher, manche nicht. Mit den ganz Orthodoxen hatte man ohnehin wenig zu tun.

CC: Ist das nicht arg wenig an Gemeinsamkeit? CE: Wissen Sie, wir haben genug an Gemeinsamkeit. Geschwisterliche Solidarität spürt man vor allem dann, wenn man an das Leiden der Juden im Holokaust denkt. Es gab bei uns immer schon eine Riesen-Bandbreite in puncto Weltanschauung. Aber ein gläubiger Jude und ein agnostischer oder atheistischer Jude sind sich einig darin, dass Judenhass ein entsetzlicher Irrweg war und sich ein Holokaust nie mehr wiederholen darf. Das eint alle Juden.

CC: Das kennen wir auch von Ihrem „Onkel Albert“. Mit dem Volk der Juden fühlte er sich solidarisch und geschwisterlich verbunden, die enge orthodoxe jüdische Religion hielt er für „primitiven Aberglauben“.

CE: Halt, nicht so streng! Unser Onkel Albert sah in der Religion schon einen gewissen Sinn, und er sah eine Art Evolution in der Religions-Entwicklung. Da muss manches heranreifen. Das können sie alles nachlesen in „Wissenschaft und Religion“. Aber er sah keinen Wert darin, Gebote und Verbote aufrecht zu erhalten, die früher einmal einen Sinn hatten, und wenn es nur den des Zusammenhalts einer Volks- und Kultgemeinschaft hatte, heute aber nicht mehr. Und gar nichts konnte er anfangen mit dogmatischen Aussagen über einen männlichen Schöpfergott und einer Weltenschöpfung vor genau soundsoviel tausend Jahren… Das waren für ihn Bilder, reine Bilder. Die konnte man benutzen, nach Lust und Laune. Er sprach ja auch immer wieder vom „Alten“. Das war ja auch ein Bild. Er meinte damit augenzwinkernd etwas anderes: nämlich eine Art universalen Geist, der sich in der Schöpfung manifestiert, der aber außerhalb unserer Erkenntnis liegt. Hier war er Spinoza und Kant sehr nahe.

CC: Bekommen ihre jüdischen Verwandten keinen Ärger, wenn sie einerseits Feste mitfeiern, aber wesentliche Inhalte jüdischen Glaubens nicht akzeptieren?

CE: Nö, nö, da ist man heute tolerant. Man ist ja froh, dass überhaupt noch jemand kommt zu unseren Festen.

CC: Und bei ihren Verwandten mit anderen Religionen?

CE: Da ist es ganz ähnlich. Viele Verwandte sind Christen. Die einen sind aktiv in ihren Gemeinden, in christlichen Chören oder sozialen Institutionen, andere sind nur sehr locker mit ihren religiösen Gemeinschaften verbunden, oft einfach aus altem Brauch heraus. Sie feiern Weihnachten und Ostern, schenken sich gegenseitig oder kaufen sich selber was Schönes, stellen sich einen Christbaum in die Wohnung oder hängen Bilder mit christlichen Inhalten auf. Aber keiner von ihnen, soweit ich das mitbekomme, denkt dogmatisch und glaubt all das wortwörtlich, was die christlichen Führer früher zu glauben vorschrieben. Sie sehen das alles symbolisch, poetisch, literarisch, historisch bedingt, einem früheren Weltbild zugehörig.

CC: Gibt es nicht irgend etwas, worin man sich einig ist?

CE: Doch, doch. Einig sind sie sich darin, dass es im Alltag aufs Helfen ankommt, auf Menschlichkeit. Oder wenigstens dem Nächstes nichts Böses anzutun. Im Idealfall halt das, was die Christen Nächstenliebe nennen. Da sind unsere christlich geprägten Verwandten einer Meinung. Die Zeit früherer konfessioneller Kämpfe ist ja zum Glück vorbei. Das finden alle lächerlich und aus der Zeit gefallen.

CC: Und wie feiern die miteinander ihre Feste, obwohl sie doch so verschieden ticken?

CE: Unsere christliche Verwandtschaft feiert bei Familienfesten genau so gern wie unsere jüdische Verwandtschaft. Man ist froh, wenn ein minimaler Konsens vorhanden ist, wenn man sich auf menschlicher Ebene versteht. Frühere Debatten, wer da zur Kommunion gehen darf und wer nicht, wer da wen heiraten darf und wen nicht, weil geschieden oder von einer anderen Konfession, ja, das finden unsere christlichen Verwandten alle unglaublich lächerlich. Sie fühlen sich eingeladen bei den jeweiligen Gemeinden, ob katholisch oder evangelisch oder sonst was, und man feiert das Fest mit, Aus und Amen.

CC: Interessant. Gibt es auch Muslime in Ihrer Verwandtschaft?

CE: Da ist mir in der Einsteinschen Verwandtschaft nichts bekannt. Ich kann mir vorstellen, dass die strenge Theologie des offiziellen Islam keinen von uns besonders lockt. Da ticken wir zu individualistisch. Kleine Nischen des Islam wie die Sufis respektiere ich persönlich sehr. Aber die Einsteins sind, glaube ich, zu sehr Individualisten. Wir sind eher „Einspänner“, – auch so ein netter Ausdruck von Onkel Albert… Wir laufen nicht gern „mit dem Haufen“. Mit dieser Einstellung ist man bei manchen religiösen Gemeinschaften, die stark hierarchisch und auf Einordnung orientiert sind, nicht überaus willkommen. Das wird eher noch dauern, bis sie sich öffnen für die Idee einer Cosmic Religion.

CC: Aber es gibt es in Ihrer Verwandtschaft auch Exoten wie Buddhisten und Hinduisten, sagten Sie.

CE: Ja, überraschend viele sogar. Halt, wenn ich genau überlege: Buddhisten gibt es eine ganze Reihe, Hinduisten wenige. Onkel Albert hat sich ja mal lobend über den Buddhismus geäußert, und er fand ihn interessant und mit seinem Weltbild kompatibel. weil er nie eine Dogmatik entworfen hat. Die Praxis von Meditation und Achtsamkeits-Übungen hat viele Anhänger in unserer Verwandtschaft. Die gibt’s ja in vielen Religionen, aber sie wurden bei uns im Westen neu entdeckt, im östlichen Gewand. Und ein paar hinduistisch angehauchte Leute haben wir auch in der Verwandtschaft. Sie sagen, die vielen Götter sind ja eh nur ein Symbol für die Vielgestaltigkeit des Göttlichen, so wie die alten Griechen und Römer ihre vielen Götter hatten für jeweils verschiedenen Lebensbereiche. Aber zurück zu unseren Hindu-Freunden in der Einstein-Verwandtschaft: Die verehren vor allem Mahatma Gandhi.

CC: Wie ja auch Ihr Onkel Albert. Haben sie sich persönlich kennen gelernt, Einstein und Gandhi?

CE: Nein, aber es gibt ein paar briefliche Kontakte. Die sind voller gegenseitiger Hochachtung.

CC: Mit einer anderen Geistesgröße hatte er ja auch Kontakt, mit Albert Schweitzer.

CE: Ja, die beiden haben sich auch sehr geschätzt. Ja, und sogar persönlich getroffen. Aber nur sehr kurz, in Berlin und London.

CC: Und wie kam da der Agnostiker Einstein mit dem Christen Schweitzer klar?

CE: Die haben sich sicher geschätzt und gemocht. Das zeigen spätere Briefe. Zu einem Gespräch über Religion ist es damals wohl nicht gekommen. Sonst hätte einer von den beiden sicher was davon hören lassen. Mit Sicherheit schätzte Schweitzer die Bemühungen Einsteins um den Weltfrieden, seine klare Haltung zum Pazifismus. Deswegen ist Einstein ja in Amerika angefeindet wurde, trotz seines Riesen-Erfolges. Und auf der anderen Seite: Onkel Albert schätzte Schweitzer wegen seiner Menschlichkeit und gelebten Nächstenliebe, wegen seiner Vielseitigkeit, Belesenheit, auch wegen seiner musikalischen Begabung. Da war Onkel Albert ja nur kleiner Dilettant, Schweitzer dagegen ein großer Meister. Und ganz sicher bewunderte er auch Schweitzers Fähigkeiten, mit Menschen richtig umzugehen, vor allem mit Ehepartnerin und Kindern. Also das, was wir heute „soziale Intelligenz“ nennen. Darin war Onkel Albert keine Leuchte.

CC: War ihm Schweitzer nicht zu konfessionell geprägt, zu „kreuzbrav“?

CE: Das glaube ich nicht. Da war Onkel Albert soweit ich sehe zu pragmatisch. Wer heilt, hat recht. Wer Gutes tut, tut Gutes. Das ist entscheidend. – Doch halt, wenn man genau nachdenkt: Man kann ja Gutes tun und weltanschaulich dennoch völlig auf dem falschen Dampfer sein. Aber ich denke, auch weltanschaulich waren die beiden nicht so weit voneinander entfernt.

CC: Moment! Der eine war überzeugter Christ, der andere war überzeugter Agnostiker!

CE: Ja, das schon. Aber Schweitzer hat sich von einem dogmatischen Christentum verabschiedet. Er plädierte für ein ethisches Christentum der Tat. Dass er als großer Musikliebhaber, ja Musik-Genie weiterhin die Musiksprache des Christentums liebte und pflegte, eben auch die Sprache der Lieder, der Gesänge, der Gebete, ist ja mehr als verständlich. Daraus hat er Kraft geschöpft für sein ethisches Tun.

CC: Aber das war bei Ihrem Onkel Albert doch ganz anders…

CE: Sag ich ja grade. Schauen Sie: Bei Einstein lief der Weg genau andersherum: Er gab die Religion seiner Kindheit, seiner Familie, seines Volkes zunächst auf. Warum? Weil er sie nicht mit dem Verstand vereinbar hielt. Aber später hat er eben doch seine Art von Religion gefunden, die „Kosmische Religion“, die Cosmic Religion oder Religio Cosmica.

CC: Sah er die „Kosmische Religion“ als eine Höherentwicklung? CE: Ja. Er hat sich ja, vor allem als er „Wissenschaft und Religion“ geschrieben hat, viel mit der Geschichte der Religionen und mit Religionsphilosophie befasst, Er hat gewusst, dass in jeder Religion Schlimmes und Brutales und Abscheuliches geschehen ist –

CC: Ja, wie entsetzlich!

CE: Ja, und dann eben auch: Er hat erleben müssen, dass Kampf gegen Religion auch wieder Brutales und Abscheuliches geschehen ist, denken Sie an den Stalinismus, an den Nationalsozialismus, an den Maoismus. Und er hat gewusst: Eine zeitgemäße oder künftige Religion kann sich nicht nur orientieren an alten Bräuchen oder Schriften oder ehrwürdigen uralten Ritualen. Sie muss sich orientieren an mühsam erkämpften Werten wie Vernunft, Freiheit des Geistes, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Gewaltfreiheit, Menschenrechte, Gleichberechtigung der Geschlechter und so weiter.

CC: Da waren – und sind – die traditionellen Religionen aber noch weit entfernt.

CE: Ja, stimmt. Da ist Onkel Alberts Cosmic Religion oder Religio Cosmica weiter.

CC: Ob die beiden, Ihr Onkel Albert und Albert Schweitzer, wohl eine gemeinsame religiöse Feier gestaltet hätten?

CE: Aber sicher! Stellen Sie sich einfach mal vor: Die beiden, Albert Einstein und Albert Schweitzer, wären eingeladen worden von Mahatma Gandhi zur Feier der indischen Unabhängigkeit, man verbringt noch zusammen mehrere Tage im privaten Kreis, mit guten Gesprächen, bei Vorträgen und Konferenzen, in indischen Universitäten und Institutionen, – und dann geschieht das Entsetzliche: Gandhi wird ermordet! – Könnten Sie sich vorstellen, dass Einstein und Schweitzer Hals über Kopf abreisen? Niemals! Beide würden bleiben! Sie hätten der Trauerzeremonie beigewohnt, sie hätten ihrem Weggefährten die letzte Ehre erwiesen. Sie hätten, glaube ich, gemeinsam bei der Trauerfeier vor den Toren Delhis ehrende Worte gesprochen, draußen vor den Toren der Stadt, wo man kurz nach seinem Tod die äußere Hülle von Ghandi nach feierlichem Hindu-Ritus verbrannt hat. Sie hätten passende Worte gefunden, für die versammelte Menschmenge in Delhi und für die Menschen in der Welt! Und es wären wohl Worte gewesen, die alles Reden über die richtige Religion und die richtigen Riten verstummen hätten lassen. Denn im tiefsten Grunde, so ist die Botschaft der drei großen Geister, sind wir doch alle Geschwister im großen Kosmos, berufen zur Erkenntnis und zum Frieden.

CC: Jetzt reden Sie fast wie Ihr „Onkel Albert“ und seine beiden Freunde! Aber auf jeden Fall eine interessante Idee, die drei großen Geister mal zusammen treffen zu lassen, auf der Höhe ihrer Schaffenskraft und öffentlichen Wirkung. Leider hat das ja nicht geklappt.

CE: Richtig. Aber wir haben es in der Hand, Ihre großen Gedanken zu Ende zu denken, und vor allem, in ihrem Sinne zu leben.

CC: Das wäre fast ein schönes Schlusswort. Aber ich hab´ noch Bedenken…

CE: Welche? Raus damit!

CC: Ist es Ihrer Meinung nach dann völlig egal, ob man sich als Jude oder Christ oder Muslim oder Atheist oder Agnostiker oder irgendwas dazwischen bezeichnet?

CE: Zumindest ist es nebensächlich. Jeder von uns wächst irgendwie heran, wird geprägt von der Gesellschaft inklusive Religion, lernt Geschichten und Mythen kennen, mag sie oder mag sie nicht, lernt Literatur und Wissenschaften, mag sie oder mag sie nicht. Aber je mehr man kennen lernt an Geschichten und Legenden und literarischen Figuren und religiösen Vorstellungen, umso weiter wird der Horizont, und umso toleranter wird man gegenüber anderen. Das ist ein Vorteil. Weniger Vorurteile, weniger Feindbilder, gut für den Frieden!

CC: Und dann noch was…

CE: Was noch?

CC: Sie haben ja schon was angedeutet, zum Privatleben Ihres Onkels Albert…

CE: Oh, da gäb´s viel zu erzählen! Da reicht die Zeit heute nicht mehr!

CC: So sehr sie sich einig waren in puncto Friedenspolitik und Gerechtigkeit und Humanität, – persönlich waren sie ja völlig verschieden: Gandhi ein absoluter Asket, strenger Vegetarier, Schweitzer ein vielseitiger zupackender Tatmensch, mit unglaublicher Disziplin, ernst und gradlinig, mit protestantischem Arbeitsethos, und auf der anderen Seite Einstein, ein Genießer, „lustiger Fink“, wie er mal bezeichnet wurde, der die Frauen liebte, aber mit seinen beiden Ehefrauen nicht gerade liebevoll umging, außer in den Anfangsphasen. Da war schon noch Luft nach oben, ein Vorbild in menschlicher Hinsicht war er nicht gerade.

CE: Das stimmt. Sie haben Recht. Das war er nicht, wollte es auch nie sein. Dass er zu einer moralischen Instanz wurde, war ihm peinlich. Die Sache hat aber auch einen Vorteil: Es führt uns vor Augen: Nobody is perfect! Es gibt viele Wege, wie wir Menschen fair und gerecht und in Frieden zusammen leben können. Es gibt viele politische und religiöse Wege, die wir immer wieder neu durchdenken müssen. Da kann man Gutes und Bewährtes finden und beherzigen, und man kann Neues und Revolutionäres andenken und anpacken. Als Richtschnur sollte gelten: Humanität, Frieden, Suche nach Wahrheit, Gewaltfreiheit. Dann wäre viel gewonnen.

CC: Schon wieder so ein schönes Schlusswort!

CE: Stimmt. Lassen wir´s also für heute gut sein. Ein Hoch auf Onkel Albert! Und seine Freunde im Geiste!

Wie ich die Religion sehe

Interview 2

Cosima:

Schön, Sie wieder zu sehen.

Peter:

Ganz meinerseits. Wie geht´s?

C: Gut, sehr gut sogar.

P: Wunderbar, das freut mich.

C: Ja, dann können wir ja gleich loslegen. Heute darf ich fragen, und Sie antworten.

P: Ja, so war´s ausgemacht. Und dass wir uns beim Vornamen ansprechen.

C: Gerne. Und wir wollten reden über das Thema: „Wie ich die Religion sehe. Den Titel finde ich raffiniert.

P: Raffiniert, wieso?

C: Oder nennen wir es besser: pfiffig. Es erinnert mich an einen Aufsatz von Onkel Albert.

P: Ja, das war auch beabsichtigt. Ich bin ja auch ein großer Verehrer Ihres „Onkel Albert“.

C: Ich hab´s nicht mehr ganz genau im Kopf: Wie heiß der Titel genau?

P: Albert Einstein titelte: „Wie ich die Welt sehe“

C: Ah ja, stimmt. Ich erinnere mich wieder.

P: Er schrieb diesen kurzen Aufsatz im Jahr 1930. Und er hat nichts an Aktualität eingebüßt.

C: Erzählen Sie mir doch, was Sie daran so zeitlos finden. Aber dann will ich Sie unbedingt auch fragen, was Sie persönlich hinzu fügen möchten.

P: Also gut, dann sage ich zuerst einmal, was ich an Onkel Alberts Zeilen so gut finde, und das führt uns ja auch hin zu unserem Thema. Denn wir haben ja ein anderes Thema. Es soll ja nicht um die Welt und Physik und Astrophysik gehen, sondern um das Thema Religion.

Eine ideale Eröffnung: Wie ich die Welt sehe.

C: Also, was finden Sie denn besonders gut an diesen Seiten von Onkel Albert?

P: Also ich finde schon den Einstieg super. Die ersten Worte des Textes lauten ja: „Wie merkwürdig ist die Situation von uns Erdenkindern! Für einen kurzen Besuch ist jeder da…“ Ich kann die paar Sätze auswendig. Da wird jeder Mensch gleich mal mitgenommen zum Sich-Hineinfühlen in unsere menschliche Existenz, zum Mit-Denken, und zugleich wird er hinein genommen in die ganze Menschheitsfamilie. Und das in so einfachen Worten!

C: Ja, das hatte er drauf…

P: Und gleich ein paar Sätze weiter kommen diese Sätze der Dankbarkeit: „Jeden Tag denke ich unzählige Male daran…“ Er denkt dankbar an die Menschen, lebende und verstorbene, die sein Leben, äußeres und inneres, möglich gemacht haben. Und zwei Sätze weiter ist er auch schon bei einem seiner Hauptthemen: „Die sozialen Klassenunterschiede empfinde ich nicht als gerechtfertigt und letzten Endes als auf Gewalt beruhend“.

C: Ein kühner Sprung!

P: Ja, ganz sicher, aber auch ein richtiger. Der gedankliche Sprung ist nachvollziehbar. Er war ja immer sozialrevolutionär angehaucht. Und dann kommt er fast schon wie Gandhi daher, wenn er schreibt: „Auch glaube ich, dass ein schlichtes und anspruchsloses äußeres Leben für jeden gut ist, für Körper und Geist.“

C: Oh, Sie haben viele Sätze von Onkel Albert im Kopf…

P: Er hat ja auch jede Menge an Zitaten geliefert.

C: Stimmt.

P: Und dazu gehören auch die Worte: „Meine Ideale waren Güte, Schönheit und Wahrheit.“ Das ist ja, da denke ich als Philosoph sofort daran, die „philosophische Dreifaltigkeit“ bei Platon: das Wahre, Gute und Schöne. Literarisch klingt es einfach gut, so ein Dreiklang. Den Dreiklang finden wir ja auch später in der Bibel, im Johannes-Evangelium: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.

C: Oh, das sind hehre Vergleiche! So bibelfest bin ich nicht wie Sie.

P: Ja, ein schönes Zitat. Aber Vorsicht! Bei einem aufgeklärten Menschen läuten sofort die Warnglocken, wenn jemand behauptet, er hätte die Wahrheit oder gar sei die Wahrheit. Wir würden heute etwas vorsichtiger sagen: Das Ideal ist die aufrichtige Suche nach Wahrheit.

C: Ja, damit wäre Onkel Albert sicher auch einverstanden.

P: Ganz nah kommt man Ihrem Onkel Albert, wen man liest: „Ich bin ein richtiger ´Einspänner´, der dem Staat, der Heimat, dem Freundeskreis, ja, selbst der engeren Familie nie mit ganzem Herzen angehört hat, ein Gefühl, das sich mit dem Lebensalter noch steigert.“

C: Ja, so war er halt, der „Einspänner“.

P: Und ich finde, er macht allen anderen Einspännern damit Mut.

C: Stimmt. Sehe ich auch so.

P: Dann plädiert er für die Demokratie. „Mein politisches Ideal ist das demokratische.“ So heißt es bei ihm, und jeder solle „als Person respektiert und keiner vergöttert sein“.

C: Ja, interessant.

P: Da meint er sicher auch ein wenig den Kult um ihn selber.

C: Ja, sicher.

C: Die Demokratie sieht er ja am meisten fortgeschritten in den Vereinigten Staaten. Dass es in seiner Zeit in Europa nicht so klappte, sah er in Mängeln an den politischen Spitzen.

P: Sicher hätte er es nie für möglich gehalten, dass die Vereinigten wieder zurückfallen könnten in politische Barbarei, wie bei dem politischen Trampeltier – ich will den Namen gar nicht in den Mund nehmen…

C. Ja, richtig.

P: Aber er sieht auch viel Positives in Europa. Er schätzt „die weitergehende Fürsorge für das Individuum im Falle von Krankheit und Not.“

C: Ja, da haben wir einen großen Unterschied. Er besteht heute noch. Leider.

P: „Als das eigentlich Wertvolle im menschlichen Getriebe“, so schreibt er weiter, empfinde er „nicht den Staat, sondern das schöpferische und fühlende Individuum, die Persönlichkeit“.

C: Ja, das ist typisch Onkel Albert. Der Mensch ist wichtiger als der Staat. Der Staat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Staat.

P: Die größte Verurteilung kommt ja noch, „die schlimmste Ausgeburt des Herdenwesens … das mir verhasste Militär!“

C: Ja, da war er rigoros.

P: Und es geht ja noch weiter: „Dieser Schandfleck der Zivilisation sollte man so schnell wie möglich zum Verschwinden bringen“, und „Heldentum auf Kommando, sinnlose Gewalttat und die leidige Vaterländerei, wie glühend hasse ich sie, wie gemein und verächtlich erscheint mir der Krieg; ich möchte mich lieber in Stücke schlagen lassen, als mich an so einem elenden Tun beteiligen!“

C: Ja, da haben wir ein fast schon religiöses Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit.

P: Und dann gibt es ja die bekannten Worte: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle… Das Erlebnis des Geheimnisvollen… hat auch die Religion gezeugt… Dies Wissen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.“

C: Ja, und da sind wir genau beim Thema, bei der Religion und Religiosität.

Einstein als „tiefreligiöser Ungläubiger“

P: Ihr Onkel Albert sah sich als „tiefreligiösen Ungläubigen“.

C: Ja, er sah sich einerseits als religiös, tief religiös sogar. Und zugleich ungläubig. Das bezieht sich auf seine tiefe Ablehnung eines festgelegten, dogmatischen, organisierten Glaubens.

P: Kein Wunder, bei seiner Intelligenz und seinem Wissen!

C: Das wissen wir alle. Aber jetzt wollen wir ja reden über Ihre Einstellung zur Religion, Ihre ganz persönliche Sicht.

P: Stimmt. Also, auf geht´s.

C: Worin stimmen Sie grundsätzlich überein mit Onkel Albert?

P: Zunächst mal: „Alles, was von den Menschen getan und gedacht wird, gilt der Befriedigung gefühlter Bedürfnisse…“ Das ist ja auch so ein markanter Satz aus seinem Aufsatz „Religion und Wissenschaft“. Und da wird schon mal klar, dass die Religion mit all ihren Handlungen und Vorstellungen und Darstellungen und Riten ein Produkt des Menschen ist.

C: Religion ist also für Sie ein Produkt des Menschen, ein Produkt seiner gefühlten Bedürfnisse? Hat Gott hier nichts mehr zu suchen?

P: Unsere Begriffe von Gott, Götter oder Gottheit sind natürlich immer Vorstellungen des menschlichen Geistes. Jedes Wort, jede Bezeichnung dafür ist ein Produkt des Menschen. Der menschliche Geist befriedigt damit gefühlte Bedürfnisse. Der Mensch hat offensichtlich Bedürfnisse dieser Art. Nennen wir sie gerne mal „metaphysische Bedürfnisse“.

C: Aha. Sie meinen also: Der Mensch hat ein metaphysisches Bedürfnis. Irgendwie ist es nützlich oder sinnvoll oder es tut ihm einfach gut, so etwas wie Gott zu erfinden, – aber ob es diese Sache bzw. Gott wirklich gibt, das ist nicht sicher.

Einstein, Spinoza, Kant, Goethe und andere Freigeister

P: Name ist Schall und Rauch, würde Goethe sagen. Ihr Onkel Albert hat ihn ja auch geschätzt. Ob man Gott oder God oder Deus oder Theos oder Jahwe oder Allah sagt zu dem, was wir mit Gott meinen, ist zweitrangig. Die antiken griechischen Philosophen sagten Logos oder Nous.

C: Und heute?

P: Goethe würde lieber sagen: Weltgeist, Weltengeist, göttliche Natur, Ihr Onkel Ur-Energie, Kosmos, kosmische Energie…

C: Aber es ist doch ein Unterschied! Die einen setzen einen personal verstandenen Gott voraus, die anderen ein abstraktes Prinzip!

P: Ja, das stimmt. Theisten haben teils ein archaisches Gottesbild, teils ein aufgeklärtes Gottesbild. Das kann auch pantheistisch sein. Das wurde lange verurteilt, denken Sie an Giordano Bruno oder Spinoza.

C: Den mochte Onkel Albert sehr!

P: Ja genau. Ein Giordano Bruno oder ein Spinoza wäre heute völlig salonfähig. Natürlich haben christlich oder jüdisch oder muslimisch geprägte Hardliner ein Problem mit einem pantheistisch tickenden Gemeindemitglied. Sie wären aber froh, wenn ein hellwacher Kopf weiterhin in der Gemeinde mitarbeitet, sich engagiert…

C: Aber vielleicht nur solange er den Mund nicht zu laut aufmacht und seine Meinung nicht zu laut kundtut.

P: Das mag sein. Aber in der aufgeklärten Welt weiß man: Über die drei großen metaphysischen Fragen kann man keine eindeutigen wissenschaftlich sicheren Aussagen machen.

C: Oh? Kenne ich nicht? Können Sie mich informieren?

P: Die drei großen metaphysischen Fragen sind nach unserem hoch geschätzten deutschen Philosophen Immanuel Kant folgende: Gibt es einen Gott? Gibt es ein individuelles Leben nach dem Tod? Gibt es einen freien Willen? Nach Kant kann man diese Fragen wissenschaftlich nicht endgültig beantworten bzw. verifizieren. Man kann aber aus Gründen praktischer Vernunft ein Ja dazu sagen, es für möglich halten, es aus Gründen praktischer Vernunft annehmen. Aber immer unter dem Vorbehalt, dass es eine (gläubige) Annahme ist.

C: Ah, danke.

P: Wenn ich das im Hinterkopf habe, bin ich schon mal nicht mehr ein allzu simpler Geist, der einfach nur „glaubt“, was angeblich heilige und oft genug unheilige Männer gesagt oder aufgeschrieben haben. Früher haben auch die klügeren der Theologen gesagt: Deus semper maior, Gott ist immer größer, also Gott ist immer größer als es unser kleines menschliches Gehirn ersinnen kann. Damit konnten sich die klügeren der Theologen halbwegs wehren gegen die schlichteren Geister ihrer Branche. Leider nicht immer, wie wir wissen. Gott sei Dank haben wir in unseren Breiten die Aufklärung durchgefochten.

Hintergrund – raus damit!

C: Zwischenfrage: Ich merke, Sie haben Hintergrundwissen in Religion und Philosophie. Bitte raus damit!

P: Ja, da hat sich was angesammelt.

C: Studiert? Angelesen? Erfahren?

P: Beides. Ich habe Theologie studiert und abgeschlossen, und in Philosophie promoviert. Und mich ein Leben lang mit theologischen und philosophischen Fragen befasst. Mein Broterwerb hatte andere Schwerpunkte, nämlich Kommunikation, aber Philosophie und Theologie haben mich ein Leben lang begleitet. Sie waren immer der Hintergrund meiner Arbeit. Und außerdem: Ich habe  auch viel selber erfahren dürfen durch menschliche Begegnungen und auf Reisen.

C: Wo begann dieses Leben? Und wie kamen Sie darauf, diese Fächer zu studieren?

P: Sie glauben es vielleicht nicht: Meine Kindheit verbrachte ich in Wirtshäusern!

C: Was, in Wirtshäusern?

P: Ja, genau. Ich bin in Gasthäusern aufgewachsen. Meine Eltern hatten eine Gaststätte in Bad Aibling, während meiner ersten vier Lebensjahre, später in Rosenheim, einer Stadt in Oberbayern, mit herrlichem Biergarten und Blick in die Alpen. Wir waren vier Geschwister, vier Buben. Der Alltag meiner Eltern war arbeitsreich – Gaststätte, Metzgerei, vier Kinder, Nachkriegszeit – aber sie haben sich gut verstanden, sie waren glücklich und zufrieden. Ich habe sie nie streiten erlebt. Kraft schöpften sie aus ihrem christlichen Glauben. Übertrieben kirchentreu waren sie nicht, da fehlte schon die Zeit dazu. Immerhin, ich war damals bereits Messdiener, oder Ministrant, wie man bei uns sagte. Dann starb mein Vater. Wir zogen um, und ich musste die Schule wechseln. Ich kam in eine Schule und Internat, das später eine gewisse Berühmtheit erlangte: das Humanistische Gymnasium Traunstein. Dort machte auch Papst Benedikt XVI das Abitur. Er war damals, als ich Schüler war, bereits renommierter Professor der Theologie. Ich habe ihn persönlich kennengelernt, habe bei ihm auch ministriert. Sie können sich vorstellen, das ganze Ambiente war dort relativ religiös geprägt.

C: Kann ich mir vorstellen…

P: Die über 100 Buben vom Internat, – ich hatte die Wäsche-Nummer 162 -, gingen hinunter ins städtische Gymnasium. Aber vorher: Um halb sechs Uhr morgens klingelte unerbittlich der Wecker im Schlafsaal mit 40 Betten. Dann hieß es aufstehen, waschen, anziehen. Um 5 Uhr 50 in die Messe. Um 6 Uhr 30 zum Morgenstudium in den Studiersaal. Um 7 Uhr 10 gab´s Frühstück im großen Speisesaal. Anschließend ging es hinunter in die Stadt ins Gymnasium. Mittags zurück ins Internat. Der Nachmittag hatte eine große und eine kleine Freizeit. Da konnte man Fußballspielen, Tischtennis spielen, lesen, Schach spielen und so weiter. Aber die meiste Zeit gehörte dem Studium, dem Lernen. Im Internat galt es als besonderes und höchstes Ziel, Priester zu werden, Gott und der Kirche zu dienen, das war ja eins. Und natürlich habe ich das damals auch ernsthaft überlegt.

C: Wirklich?

Durch Wissen zum Nicht-Wissen

P: Ja, ich war jung und voller Idealismus. Aber dann kam das Studium in München. Je mehr ich studierte und Hintergründe der Religion und des Christentums und der Kirchengeschichte erfuhr, umso mehr kam ich zum Ergebnis, dass ich mein Christentum anders formulieren musste als es die Amtskirche tat. Aus theologischen Gründen, aus akademischen Gründen, aus ethischen Gründen. Ich wollte sie ändern, von innen heraus. Ich war einer der aktiven Nachwuchs-Theologen. Ich wurde sogar Sprecher der Laien-Theologen. Aber je mehr ich mich damals engagierte, auch mit Professoren und Amtsträgern und dem damaligen Bischof und Kardinal engagiert diskutierte, umso mehr wurde mir klar, dass ich mit der katholischen Amtskirche immer im Clinch liegen würde.

C: Warum?

P: Philosophie lag mir näher als Theologie. Aufgeklärte, moderne Theologie lag mir näher als die traditionelle. Lieber als Ratzinger las ich Küng oder Boff. Die Bibel verstand ich lieber historisch und entmythologisiert als wörtlich. Unabhängige Geschichtswerke erschienen mir glaubwürdiger als kirchengeschichtliche Werke. Und amtskirchliche Praxis wich stark ab von dem, was ich als richtig empfand. Zum Beispiel die repressive Sexualmoral, der Ausschluss der Frau vom Priesteramt und damit fehlende Gleichberechtigung von Mann und Frau. das Zölibat …

C: Oh, das wär´ sicher nichts für Sie gewesen, oder…

P: Richtig. Das war der eine Punkt. Gott sei Dank lernte ich eine liebe Frau kennen, mit der ich Liebe und Leben und Liebesfreuden teilen durfte und Kinder bekommen durfte und am Leben in aller Fülle teilnehmen durfte. Die Ehelosigkeit für Priester dürfte die Amtskirche nicht befehlen, das ist erstens von ihrer Heiligen Schrift her nicht gedeckt, zweitens bringt es viel mehr Nachteile als Vorteile, denken Sie an die seelischen Nöte der Betroffenen und der Wortbrüchigen – und die Nöte ihrer Geliebten und ihrer Kinder! Und so mancher Missbrauch hätte verhindert werden können. Nur, den gibt´s natürlich auch anderswo. Aber ich denke, es hängt doch zusammen…

C: Verstanden. Und der andere Punkt?

P: Fragwürdige Inhalte und Unterordnung. Ich dachte damals sehr modern. Ich glaubte lange noch: Man muss halt arbeiten und diskutieren und kämpfen für eine zeitgemäße und menschenfreundlichere Kirche. Aber dann erfuhr ich, wie es den Autoren erging, die ich sehr schätzte: Teilhard des Chardin, Küng, Boff, Cardenal und so weiter. Sie erhielten Publikationsverbote, Predigtverbote, und ich erfuhr von langwierigen und unwürdigen Imprimatur-Verhandlungen. Da wusste ich: Das ist nichts für mich!

C: Das glaube ich Ihnen gern.

P: Mir war klar: Ich möchte das sagen und schreiben, was ich denke! Und ich wollte mir nicht von Vorgesetzten befehlen lassen: Das dürfen Sie zwar denken, aber nicht öffentlich sagen oder schreiben!

C: Verständlich.

P: Und so kam es halt wie es kommen musste: Je mehr ich von der Theologie erfuhr und wusste, umso weniger konnte ich sagen: Das oder jenes ist richtig, denn das wissen wir durch Heilige Schriften oder heilige Tradition! – Ich habe mich mehr der Philosophie zugewandt, verstehe mich mehr als Philosoph denn als Theologe. Denn als Philosoph kann man zu seinem Nichtwissen und zu den Grenzen seines Wissens stehen. Aber ich habe natürlich weiterhin eine Affinität mit der Theologie.

C: Wie meinen Sie das?

P: Ich kann über Theologie mitreden. Und ich schätze vieles daran. Und vieles auch nicht. Und ich kann dies offen sagen. Ich brauche keine Rücksicht nehmen auf Hierarchien und Vorgesetzte.

Geistige Freiheit – wie wertvoll!

C: Diese Freiheit haben nicht viele.

P: Das stimmt. Das gilt für fast jede Organisation, für Firmen, Parteien und so weiter. Der Maulkorb-Erlass ist aber bei großen Organisationen viel ausgeprägter. Die wenigsten Organisationen sagen: Weg mit Heiligen Kühen! Raus mit der Sprache! Her mit neuen Ideen!

C: Da würden sie sich den eigenen Ast absägen.

P: Ja, den Ast, auf dem man meist bequem sitzt. Aber ohne neue Ideen läuft ja auch nichts.

C: Stimmt.

P: Im übrigen lehne ich Traditionelles nicht ab, vieles liebe ich. Ich bin sehr gerührt von Gläubigkeit, wenn sie Kraft gibt zur kraftvollen Lebensgestaltung und zur Lebensbewältigung in Schicksalsschlägen. Und vor allem halte ich viel von altbewährten Gesetzen des rationalen Dialogs und der Fairness.

C: Und des Respekts!

Tradition und Neues!

P: Genau. Außerdem finde ich, dass die Tradition viel Bewährtes parat hält. Traditionelle Riten sind oft ein großer Trost für die Menschen, denken Sie an eine Trauungs- oder auch Trauerfeier. Da schauen sich auch moderne Zeremonienmeister immer auch viel ab.

C: Kann man die einfach übernehmen? Neuer Wein in alte Schläuche?

P: Man kann übernehmen, was man gut findet. Man braucht nicht das Rad neu erfinden. Was gefällt, kann man übernehmen, was nicht gefällt, kann man ersetzen. Mit dem gebotenen Taktgefühl und Sprachgefühl, mit Toleranz und Empathie.

C: Kann man die bisherigen Profis ersetzen?

P: Nein. Religionen und ihre Gemeinschaften wird es geben so lange es Menschen gibt. Und jede Weltanschauungs-Gemeinschaft formt ihre Riten. Aber diese werden zumindest in aufgeklärten Gesellschaften immer säkularer. Nehmen wir das Beispiel der Trauungen. In vorchristlicher Zeit haben die Familien-Oberhäupter die Heiratszeremonie geleitet. Erst später dann Priester. Heute machen es weltliche Standesamt-Beamte. Bei der Trauerfeier übernehmen es heute oft weltliche Trauerredner, oder eben auch Freunde und Angehörige. Das ist letztlich auch eine Folge der Alphabetisierung und Demokratisierung unserer Gesellschaft. Wir sind nicht mehr im Mittelalter, wo viele Menschen nicht lesen und nicht schreiben konnte und oft nicht die Stimme öffentlich zu erheben wagten. Aber: Wir sind nicht mehr Schafe, die einen Hirten braucht, der für sie denkt und für sie vorliest. Da dürfen und müssen wir schon auch selber ran.

C: Kann aber nicht jeder!

P: Ich sag´ ja nicht, dass jeder das tun muss. Aber man darf. Das ist der Unterschied. Zumindest in einer modernen und gleichberechtigten Gesellschaft. Der säkulare Staat hat es ja schon vorgemacht. Jeder Standesbeamte muss ein paar Worte sagen, die festgesetzt sind, und der Rest ist frei. Da vertraut man ganz einfach auf die menschliche Reife der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und der Beamtenschaft. Es gibt wenige Fälle, wo etwas total schief gelaufen ist.

C: Einverstanden. Hat mich überzeugt. Es wird natürlich ein sehr viel bunteres Bild, was Riten und Feiern anbelangt.

P: Ja, richtig. Aber die ganze Welt ist bunter geworden. Das ist ein Vorteil, kein Nachteil. Bunte Gärten sind besser als Monokulturen.

C: Auch besser als Wildwuchs?

P: Nein, das nicht. Das habe ich nicht gesagt. Menschliche Kultur entwickelt Regeln. Die verschiedenen Kulturen, inklusive Nationen und Religionen und so weiter, haben sich Regeln gegeben. Sie dienten dem Überleben. Aber manche dieser Regeln und Richtlinien, Gebote und Verbote sind halt nicht dauerhaft zielführend und nützlich. Oft wurden sie obsolet, oft fragwürdig, oft schädlich. Und in einer freien Gesellschaft kann man Gott sei Dank darüber offen diskutieren, ob sie weiter gelten sollen oder verändert werden sollen, zugunsten der Menschlichkeit.

C: Sie sagen öfter „Gott sei Dank“. Ist es nur so eine Wendung, nur so dahin gesagt, oder hat es bei Ihnen eine tiefer Bedeutung?

P: Zum einen eine Wendung, die mir leicht von den Lippen geht, wenn ich tatsächlich froh bin, wenn etwas gut gelaufen ist oder wenn es jemandem gut geht etc. Wenn Sie daraus hinauswollen, ob ich einem Gott persönlich dafür danke, dass etwas gut gelaufen ist, weil er es so gelenkt hat, da muss ich etwas richtigstellen. Ja, ich danke dem Weltengeist oder Ur-Energie oder wem immer, dass sich etwas, zufällig oder nicht, in eine Richtung entwickelt hat, die mir oder einem Mitmenschen oder der Welt gut tut.

C: Aha, das ist ein Dank. Würden Sie auch bitten? Würden Sie auch beten?

P: Der Reihe nach. Ja, der Dank geht mir leicht über die Lippen. Auch bei Menschen. Es ist ja schön, wenn man Dankeschön sagen kann und einem Menschen danken kann. Kann man einem Gott danken? Auch wenn man gar nicht genau weiß, ob es ihn gibt oder ob er einen hört. Aber da habe ich die Antwort impliziert schon gegeben: Ich danke dem Kosmos, dem Leben, dem, was frühere Generationen als Gott oder göttlich bezeichnet haben. Und das reden wir in der Poesie und Literatur halt per Du an. Diese persönliche Ansprache ist mir vertraut. Und es ist mir lieber, diese Form zu benutzen als zu verstummen und keinen Dank auszusprechen.

C: Und eine Bitte, – können Sie Gott etwas bitten?

P: Nicht in dem Sinne, dass ich sage, wie frühere Generationen: Lass es bitte heute regnen! Lass den Freund, die Freundin nicht sterben! Lass es endlich Friede werden auf Erden! Lass die Zeit der Knechtschaft, der Verfolgung, der Sklaverei ein Ende sein! – Aber sehr wohl in dem Sinne: Möge doch Geist und Sinn und Mut einkehren, dass wir Menschen das Rad der Geschichte so drehen, dass unser Leben besser, friedlicher wird. Das darf ich den Weltengeist doch bitten, oder nicht?

C: Warum nicht? Hoffentlich hört er es auch!

P: Ja, das ist zu hoffen. Aber ich glaube auch, dass das, was wir Menschen denken, eine Auswirkung hat auf das, was wir tun. Und wenn ich mit der Kraft des Weltengeistes oder eines Gottes oder wessen auch immer Gutes tue, dann ist es zweitrangig, wie ich diese Kraft benenne. Und wenn ich sie in besonderen Situationen Gott nenne und anspreche, dann finde ich das auch in Ordnung. Sogar schön. Und wenn das jemand nicht kann, – auch gut!

C: Beten Sie?

P: Beten und bitten gehören etymologisch zusammen. Ich bitte im oben genannten Sinn. Also kann man das auch beten nennen. Meditieren kann man auch beten nennen, wenn man will. Ich will das nicht rigoros abgrenzen. Ich weiß schon: dogmatische Theisten sagen, Gebet sei per definitionem nur ein Gespräch mit dem personal verstandenen Gott. Aber das sehe ich nicht so. Dann müsste man einem Buddha oder heute einem Dalai Lama absprechen, dass er bete. Der endet ja seine Meditationen und Bitten und Wünsche immer mit der schönen Formel: „Dies ist mein Wunsch und mein Gebet.“ Ich sehe das ähnlich.

C: Ich verstehe. Und Kindergebete?

P: Da bin großzügig. Ich würde keine allzu simplen oder plumpen Gebete mit meinen Kindern und Enkelkindern oder schutzbefohlenen Kindern sprechen. Aber so etwas wie Abendgebete oder eine Besinnung am Ende des Tages oder eine Bitte im oben genannten Sinne finde mehr als in Ordnung.

C: Was heißt hier „mehr als in Ordnung“?

P: Ich glaube, das ist besser als nicht zu beten. Gespräch wirkt therapeutisch. So kann das Gespräch mit dem Kosmos oder von mir aus auch Gott genannt therapeutisch wirken. Es kann gut tun. Ich wende mich an die Tiefendimension unseres Daseins, wie immer ich es nennen mag. Also kann ich es aus pragmatischen Gründen gut heißen. Der Theologe würde es ohnehin gut finden, und ich kann es auch philosophisch absegnen.

C: Interessant. Und wissen Sie was?

P: Was?

C: Das Gespräch hat mir jetzt auch gut getan. Es war anregend. Danke.

P: Oh, freut mich. Und ich danke auch! Ihnen und Onkel Albert! Ihnen, weil wir uns wieder so gut unterhalten haben, und Ihrem Onkel Albert für tausend gute Gedanken…

Die Interviews mit Cosima Einstein und Peter von Wald konzip-, fing- und edierte P.Heigl.  

Peter von Wald ist ein Alias-Name, und ich ehre damit Petrus Waldes, Petrus Waldus, Petrus Waldensis, Peter von Wald – sein Name wird verschieden überliefert. Ich benutze ihn bisweilen für philosophische und religionsphilosophische Arbeiten.

Peter von Wald lehrte um 1200 n.Chr. bereits Überzeugungen, mit denen er seiner Zeit meilenweit voraus war. Unter anderem: Gleiche Rechte für Mann und Frau! Recht auf persönlich verantwortete Schrift-Auslegung! Recht auf freie religiöse Überzeugung! Er wurde verfolgt, seine “Waldenser” und ähnliche Gruppen, wie die Katharer, wurden verurteilt, hingerichtet, verbrannt.

Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit ist für uns heute, Gott sei Dank, selbstverständlich. Zumindest in unserem Kulturkreis leben wir in großer Freiheit. Wir haben allen Grund, diejenigen zu ehren, die uns diese Freiheiten unter hohen persönlichen Opfern erkämpft haben. Ein schöner Zufall will es: Ich führe den Alias-Namen mit Recht. Erstens: Ich heiße Peter, und zweitens: Ich wohne in Wald. Das „von“ bedeutet also schlicht und einfach die Herkunft, und ich denke dankbar an Wegbereiter unserer Geschichte: Thales von Milet, Hippokrates von Kos, Pythagoras von Samos, Wilhelm von Occam, Nikolaus von Kues, Erasmus von Rotterdam, Hildegard von Bingen, und viele weitere große Geister, und an Leitbilder der Menschlichkeit wie  Jesus von Nazareth, Franz von Assisi …


– und ein Cosmea-Gruß an Cosima!